Stationäre Behandlung bei Adipositas: „mehr Selbstvertrauen gewinnen“
Unser Interviewpartner:
Dr. med. Alexander Balling ist Oberarzt an der Schön Klinik Bad Bramstedt und u.a. Spezialist für Adipositas + Binge-Eating-Disorder. Am Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Ärztekammer Schleswig-Holstein ist er zudem als Dozent tätig.
Die Klinik: In der Schön Klinik Bad Bramstedt werden seit über 20 Jahren eine Vielzahl von Essstörungen wie Adipositas behandelt. Da seelische Erkrankungen Essstörungen auslösen oder begleiten können, steht in der Klinik die psychosomatische Behandlung durch Ärzte, Psychologen und Fachtherapeuten im Mittelpunkt.
Diäten sind sinnlos: Das „Anti-Diät-Konzept“ von Bad Bramstedt
Die Schön Klinik Bad Bramstedt hat deutschlandweit einen ausgezeichneten Ruf und ist unter anderem auf die Behandlung von Essstörungen, darunter psychisch bedingtes Übergewicht, spezialisiert. Das Konzept der Klinik kann knapp als „Anti-Diät-Konzept“ beschrieben werden.
Denn wie Dr. Balling erklärt, haben wissenschaftliche Untersuchungen die negativen Auswirkungen von regelmäßigen Diäten bestätigt:
„Zahlreiche Diäten führen oft zu einem gestörten Essverhalten, bei dem das Hunger- und das Sättigungsgefühl verlernt werden. Langfristig begünstigen sie sogar eine weitere Gewichtszunahme (‚Jo-Jo-Effekt‘). Zudem sind Diäten nicht selten Auslöser für eine Essstörung, mit Essanfällen und drastischen Gewichtsschwankungen, was in der Regel psychotherapeutisch behandelt werden muss.“
Keine Hungerkuren, sondern ein positives Körpergefühl fördern
Er und seine Kollegen verordnen ihren adipösen Patienten daher keine strikten Diäten oder „Hungerkuren“. Stattdessen geht es den Medizinern und Therapeuten darum, das Selbstwertgefühl der Patienten zu stärken und ihnen die Kontrolle über ihr Essverhalten, über ihr Hunger- und Sättigungsgefühl sowie über ihren Gefühlshaushalt zurückzugeben.
„Essstörungen sind wesentlich gekennzeichnet durch eine übermäßige Beschäftigung mit Essen, Aussehen und Gewicht. Die Folge ist ein massives Leiden der Betroffenen, das mit Selbstvorwürfen und einer Selbstwertstörung einhergeht. Häufig ist der Mahlzeitenrhythmus sehr unregelmäßig, verbunden mit Heißhungerattacken oder reichlichem Nebenher-Essen. Ein Sättigungsgefühl wird oft nicht mehr wahrgenommen oder nicht mehr beachtet.
Die ‚Binge-Essstörung‘, die gekennzeichnet ist durch regelmäßige Heißhungerattacken, Kontrollverlust beim Essen und extremer Unzufriedenheit mit Aussehen und Gewicht ist sehr oft mit weiteren seelischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen verknüpft.“
Dies sind die Ziele einer Therapie in Bad Bramstedt:
- Veränderung des Essverhaltens hin zu mehr Bewusstheit und Genuss nach dem Modell einer flexiblen Kontrolle
- die Wahrnehmung von internen Signalen wie Hunger und Sättigung
- die Steigerung der körperlichen Aktivität
- der Aufbau von Fitness (Reduktion von Risikoerkrankungen)
- mehr Sicherheit im Umgang mit Alltagsproblemen.
Statt aufs Gewicht zu schauen: Kontrolle über das Essverhalten
Es geht darum, dass die Patienten „mehr Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen, basierend auf einer verbesserten Gefühlsregulation. Nicht die Gewichtsentwicklung selbst, sondern die Kontrolle über das Essverhalten soll im Vordergrund der Behandlung stehen“, erklärt unser Interviewpartner.
„Insofern lässt sich dieses Konzept unter anderem mit dem Begriff ‚Anti-Diät-Konzept‘“ beschreiben.“
Bei Adipositas ohne wesentliche seelische Begleiterkrankungen wie beispielsweise einer Essstörung wird hingegen entsprechend den Leitlinien der „Deutschen Gesellschaft für Adipositas“ eine längerfristige Gewichtsreduktion empfohlen.
Diese beinhaltet
- die 5 Elemente Ernährungstherapie mit maßvoller Kalorienreduktion unter Berücksichtigung von Vorlieben des Betroffenen
- eine regelmäßige Mahlzeitenstruktur
- die Wiederaufnahme von angemessener körperlicher Aktivität
- Verhaltenstraining: Selbstbeobachtung des eigenen Essverhaltens und Erfahrungsaustausch in der Gruppe
Übrigens: Über achtsameres Essen haben wir bereits in unserem Artikel „Bewusster leben – achtsam essen: Was zählt, ist, dass Sie sich wohlfühlen“ berichtet.
Vor dem Klinikaufenthalt
Dr. Balling hat uns die Voraussetzungen für eine stationäre Adipositas-Behandlung in Bad Bramstedt erklärt:
- Wenn ambulante Maßnahmen nicht ausreichen: „Eine stationäre Behandlung in der Schön Klinik Bad Bramstedt kommt dann in Frage, wenn das Krankheitsbild durch ambulante Behandlungsmaßnahmen nicht ausreichend behandelt werden kann.“
- Antrag beim Kostenträger: „Patienten werden bei uns im Rahmen einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme vom Kostenträger selbst (meist der Krankenkasse oder dem Rentenversicherungsträger) zugewiesen. Die Reha muss vorher beim entsprechenden Kostenträger beantragt worden sein.“
- Krankenhauseinweisung durch den behandelnden Arzt: „Für eine psychosomatische Behandlung von Adipositas und ihren psychischen Begleiterkrankungen ist in der Regel erforderlich, dass der behandelnde Arzt oder Facharzt für die Adipositas-Erkrankten eine Krankenhauseinweisung ausstellt.“
Weitere hilfreiche Informationen zur Vorbereitung haben wir für Sie bereits in unserem Beitrag „Reha- und Kuraufenthalt: So packen Sie Ihren Koffer“ zusammengestellt.
Der Klinikaufenthalt: Das erwartet Patienten
Der stationäre Aufenthalt in einer Klinik ist für Patienten mit vielen Unsicherheiten und auch Ängsten verbunden. Da ist es gut, wenn man schon im Vorfeld weiß, wie eine solche Therapie ablaufen kann.
Vorbereitung und erster Kontakt
Das Team um Dr. Balling versucht Adipositas-Patienten schon im Vorfeld ein gutes Gefühl zu geben und ihnen mit Rat und Tat zu Seite zu stehen:
„Vor Aufnahme des Patienten wird meist schon telefonisch Kontakt aufgenommen“, erklärt Dr. Balling. „Außerdem erfolgt häufig ein Vorgespräch (die sogenannte „Vorstationäre Behandlung“), in dem individuell Fragen zur Behandlung beantwortet werden können.“
Die Ankunft
„Bei der Ankunft zum stationären Aufenthalt wird der Patient von Mitarbeitern der entsprechenden Stationen an der Rezeption begrüßt und zu seiner Station begleitet“, erklärt Dr. Balling.
Dort wird der neu angereiste Patient durch Arzt und Bezugstherapeut untersucht. Anschließend lernt er seinen „Patientenpaten“ kennen, der ihn mit der Station und dem Haus insgesamt vertraut macht. Das Konzept, den frisch Angekommenen einen Mitpatienten als „Paten“ zur Seite zu stellen, hat sich bewährt:
„Dies erleichtert den neuen Patienten den Einstieg in die Behandlung sehr“, so Dr. Balling. „Zusätzlich erhält der Patient eine umfangreiche Patientenbroschüre, in der das Behandlungskonzept und die Krankheitsbilder ausführlich erklärt werden. Weiterhin erhalten alle neu angereisten Patienten eine therapeutengeleitete Einführung in das Behandlungskonzept.“
Die Eingangsuntersuchung
Welche Untersuchungen erwarten den Patienten nach der Ankunft?
„Am Anreisetag erfolgen das Arztgespräch, die körperliche Untersuchung und meist auch das erste psychotherapeutische Gespräch“, so Dr. Balling. „An den darauf folgenden Tagen werden noch Blutentnahme und die Abnahme eines Ruhe-EKG durchgeführt.“
Der persönliche Therapieplan
Außerdem erhalten die Patienten ihren persönlichen Therapieplan, der in jedem Fall individuell erstellt wird.
„Die Schön Klinik Bad Bramstedt verfolgt ein primär ‚störungsspezifisches‘ Behandlungskonzept, sodass Patienten mit Adipositas und Essstörungen einen auf ihr Krankheitsbild insgesamt abgestimmten Therapieplan erhalten“, erklärt der Adipositas-Experte.
„Bei entsprechenden seelischen oder körperlichen Begleiterkrankungen kann dieser Therapieplan durch zusätzliche Angebote verändert und je nach Belastbarkeit modifiziert werden.“
Der Klinikaufenthalt und sein Ablauf
Die einzelnen Therapiesitzungen, Treffen und Untersuchungen erfolgen nach einem vorgegebenen Wochenplan. So gibt es „regelmäßige Treffen von Patienten mit dem Behandlungsteam, Teamleitervisiten sowie Einzel- und Gruppenpsychotherapie“.
Zu den Gruppenprogrammen zählen beispielsweise eine Essstörungsgruppe und Ernährungstherapiegruppen. Auch Achtsamkeitstraining und Bewegungstherapie gehören zum Programm: die Patienten sollen sich und ihren Körper bewusster wahrnehmen und akzeptieren lernen.
Die Therapie-Inhalte
In der Therapie geht es zunächst darum, den Patienten Informationen zu vermitteln – über das Thema Essstörungen, Adipositas und Begleiterkrankungen usw. Außerdem wird geklärt, welche Ziele in Bezug auf die Gewichtsentwicklung wirklich realistisch sind.
Eine wesentliche Rolle spielt laut Dr. Balling auch „das Erlernen beziehungsweise Einüben eines ‚normalen Essverhaltens‘ im Sinne der ‚flexiblen Kontrolle‘, zum Teil auch angeleitet durch den Therapeuten“: So sollen sich die Patienten an feste Essenszeiten gewöhnen und lernen, regelmäßig und bewusst zu essen.
Zu den weiteren Therapie-Inhalten gehören:
- Gemeinsames Kochen von gesunden und leckeren Gerichten in der „Lehrküche“
- das Führen von Ernährungs- und Bewegungsprotokollen
- eine regelmäßige, für Übergewichtige angepasste Bewegungstherapie mit Förderung der Körperakzeptanz
- Achtsamkeitsübungen und gezielte Selbstbeobachtung
Die Ziele einer solchen Therapie sind:
- Gewinn an Stress- und Emotionskontrolle
- Verbesserung von Selbstakzeptanz und Essverhalten
- Unterscheidung emotionaler Faktoren des Essverhaltens, um beispielsweise in Zukunft nicht mehr einfach „aus Frust“ zu essen.
Therapiefreie Zeit
Der Klinikaufenthalt besteht natürlich nicht nur aus Therapiesitzungen und geleiteten Aktivitäten.
„Neben dem relativ umfangreichen Wochenplan gibt es auch therapiefreie Zeiten unter der Woche, in den Abendstunden un insbesondere am Wochenende. Dann können sich die Patienten intensiver mit sich und ihren persönlichen Zielen auseinandersetzen, sich erholen und sich selbstgestalteten Gruppenaktivitäten im Kreis der Patienten widmen.“
Nach der Therapie: Rückkehr in den Alltag
Nach Ende des Klinikaufenthalts kehren die Patienten in ihren gewohnten Alltag zurück. Wir haben Dr. Balling nach Tipps gefragt, wie der Wiedereinstieg in den Alltag gelingt und langfristige Veränderungen erreicht werden.
„Gegen Ende der Behandlung erfolgt eine Rückfallprophylaxe“, erklärt der Mediziner. Dabei werden Fragen geklärt wie:
- Welche Risikosituationen kann es im Alltag geben?
- Wie kann ich in schwierigen Situationen verhindern, in mein altes Essverhalten zurückzufallen?
„Dabei werden die Alternativen zum Rückfall in das alte Essverhalten thematisiert und auch erprobt.“
Auch mit Tages- und Wochenplänen für die Zeit nach dem Klinikaufenthalt steht das Team um Dr. Balling den Patienten zur Seite.
Erfolgsgeschichten: Was der Klinikaufenthalt gebracht hat
Dr. Balling und seine Kollegen freuen sich, wenn ehemalige Patientinnen und Patienten sich rückmelden und von ihren Erfolgen auch nach dem Klinikaufenthalt berichten. „Wir bekommen immer wieder Briefe ehemaliger Patienten, die positiv auf ihren Aufenthalt in Bad Bramstedt zurückblicken und das bei uns Gelernte in ihren Alltag integrieren“, berichtet er.
Beispielsweise haben viele in Bad Bramstedt Spaß an Sport und Bewegung gefunden und setzen das Klinik-Sportprogramm zuhause fort, etwa in Yoga- und Pilateskursen, beim Walken, im Fitnessstudio oder beim Tanzkurs.
„Auch das regelmäßige Essen und die Selbstdisziplinierung klappt bei den meisten Patienten gut.“ Wenn dann auch noch die Pfunde purzeln, stellt sich ein echtes Erfolgsgefühl ein, das die ehemaligen Patienten darin bestärkt, weiterzumachen.
„Trotzdem ist die Rückkehr in den Alltag nicht für alle ganz einfach“, fügt der Adipositas-Spezialist hinzu. „Deswegen sehen es viele Patienten als gute Lösung für den Übergang, zum Beispiel über die Krankenkasse Ernährungskurse zu besuchen.
Auch Selbsthilfegruppen für Übergewichtige mit Essstörungen können hilfreich sein, denn hier können sich die ehemaligen Patienten mit anderen Betroffenen austauschen.“
Die Klinik Bad Bramstedt unterstützt ihre Patienten bei der Kontaktaufnahme mit Selbsthilfegruppen und leistet Hilfestellung, wenn Patienten eine ambulante Psychotherapie aufnehmen wollen.
Wir bedanken uns bei unserem Interviewpartner sehr herzlich für seine ausführlichen Auskünfte.
Was es zu Adipositas-Operationen zu wissen gibt und wann diese als „letzter Ausweg“ sinnvoll sind, wird uns demnächst Frau Dr. Beate Herbig von der Schön Klinik Hamburg Eilbek erklären. Schauen Sie also demnächst wieder vorbei!
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